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Fahrradtour 23. Juni bis 3. Juli 1997 Kalabrien/Süd-Italien

Martin Löwenstein SJ

Salerno - Vibo Valéntia - Reggio Calabria - Locri - Vibo Valéntia 674 km

  • Goethe nahm von Italien südlich Neapel keine Notiz und Heinrich Heine tat es bei seiner Italienischen Reise ihm gleich und nahm von Neapel ohne Umschweife das Schiff nach Palermo -- die Alternativen sind keiner Erwähnung wert. Abweichend von der Dichter-Route hatte uns letztes Jahr der Weg von Osten, aus Apulien und der nördlichen Basilicata, via Salerno und die Straße von Amalfi und Positano nach Neapel gebracht. Damit hatten wir die teutonisch-historisierende (Apulien, Friedrich II.) und die gepflegt-künstlerische (Amalfi, Richard Seewald) Ergänzung zur Dichter-Route bereits vollbracht. Eine gewisse starrsinnige Konsequenz war es, die uns dieses Jahr, alle Tradition brechend, nicht nach Sizilien, sondern erst einmal nach Kalabrien fahren ließ, die Radtour einmal um den untersten Teil des italienischen Stiefels. Leider konnte dieses Jahr Ansgar nicht mitfahren; sein Terminkalender als neuer Pfarrer in Erfurt stand dazwischen. Wieder mit dabei war aber Christian. Ich selbst war schon acht Tage früher in Neapel angekommen.

0. Tag Montag, 23.06 Neapel - Salerno 5,00 km

  • Während der Tagung, an der ich in Neapel teilgenommen hatte, bekam ich von Neapel -- außer bei einem Ausflug zu einem wirklich bemerkenswerten Projekt für Drogenabhängige vor den Toren der Stadt -- nicht viel zu sehen und hatte auch keine Gelegenheit, das Fahrrad warmzufahren. Daher war ich bierbäuchig-untrainiert wie selten zu Beginn einer Urlaubstour. Zum ersten Mal (seit letztem Jahr) stürzte ich mich damit Montag früh in den neapolitanischen Straßenverkehr. Was äußerlich, nach dem strengen Maßstab der Straßenverkehrsordnung wie ein gefährliches Chaos aussieht ist für den Teilnehmer schnell als höchst harmonisches Geschehen zu entdecken, das auch Fahrradfahrer ohne weitere Gefährdung akzeptiert. Harmonisch ist das bessere Wort als Ordnung, denn am ehesten habe ich bei den Regeln, denen der Verkehr folgt, das Gefühl eines concerto grosso, das dann funktioniert, wenn die Teilnehmer ein Gefühl für die Musikalität der Bewegungen haben. Aus dieser Perspektive erst erklärt sich, warum in Neapel zwar viele Ampeln aufgestellt wurden, diese aber nicht in ungelenkem Wechsel verschiedene Farben zeigen, sondern fast ausnahmslos auf oranges Blinken gestaltet wurden: das Blinken gibt den Takt für die Musik.
  • Am Montag, dem 23. Juni um 11.00 Uhr stand ich am Bahnhof Napoli Centrale und wartete auf Christian, der mit dem durchgehenden Nachtzug aus München eintreffen sollte. Leider gibt es dieses Jahr an diesem Zug keinen Gepäckwagen mehr. Daher mußte Christian wie auch ich selbst sein Fahrrad in handlichere Teile zerlegen und zu einem Paket verschnüren, das die dienstbeflissenen Bahnbeamten nicht so ohne weiteres als Rad identifizieren und daher vorschriftsgemäß des Zuges verweisen würden. -- Während ich letztes Jahr noch die Italienischen Eisenbahnen als hyperpünktlich erfahren hatte, mußten wir dieses Jahr zweimal Abweichungen von Fahrplan konstatieren: beidesmal fuhr der Zug zu früh in den Bahnhof ein. Ein Fehler den man der Deutschen Bahn gern mal verzeihen würde.
  • Mit rekonstruiertem Fahrrad machten wir uns einen schönen Tag in Neapel, einige Pizze Magherite inklusive. Gerne hätte ich mir noch eine jener Tröten besorgt, mit der die Fans in Fußballstadium so eindrucksvoll Lärm machen. Da in Neapel jede Sache jedoch nur in einer bestimmten Straße, dort dann aber in einer Vielzahl von Geschäften verkauft wird (dass nicht in der einen Straße rechte, in der anderen linke Schuhe feilgeboten werden ist alles!), und da es uns nicht gelungen eben diese Straße für eine "tromba di aria" ausfindig zu machen, blieb mein Beitrag zum akustischen Straßenkonzert auf das mickrige kling-kling der Fahrradklingel beschränkt.
  • Am frühen Abend bestiegen wir einen der wenigen Nahverkehrszüge mit Fahrradbeförderung bis Salerno, das wir im Vorjahr schon besucht hatten. Dort quartierten wir uns zur Nacht in der gut geführten Jugendherberge ein.

1. Tag Dienstag, 24.06 Salerno - Polla 78,0 km

  • Ich hatte nicht erwartet, dass der Herbergsvater meine Drohung vom Vortag, wonach wir presto presto würden aus dem Haus wollen, ernst nähme. Da er sich dann aber ohne erkennbaren Unwillen aus dem Bett schmeißen ließ, scheint er doch die beiden Deutschen der Verrücktheit für fähig gehalten haben, um viertel nach sechs aufzubrechen (pünktlich, darauf hat während der ganzen Tour Christian mit großer Strenge geachtet!).
  • Der Ausflug zu den gewaltigsten Tempeln der magna graecia in Paestum gehörte zur Route vergangenes Jahr. Daher sind wir heuer direkt von Salern ins Landesinnere gefahren. Christus ferma a Éboli (Christus kam nur bis Éboli) ist der Titel eines berühmte Films über ein Bergdörfchen, der zu den Klassikern des italienischen Neorealismus gehört. Mittlerweile sind auch die Bergdörfer von den erlösenden Segnungen der Moderne erreicht.
  • Bis Éboli kam Christus auf jeden Fall, wie die wunderschön am Berg gelegene und von einem Kapuziner-Kloster betreute Kirche des Ortes zeigt. Dort machten wir die erste Station des Tages mit einer Laudes in der Kirche und einem guten Frühstück, für das man um 8.00 Uhr bereits darauf achtet, dass man nicht zu sehr in der Sonne sitzt.
  • Von Éboli geht die Straße bis auf 474 m nach oben. Hier macht sich bemerkbar, dass beide Fahrer nicht sonderlich trainiert sind. Steigungen, die uns am Ende der Tour zwar Schweiß produzieren ließen aber keine größere Beschwer mehr waren, sind am ersten Tag nur mit viel Kraft zu bewältigen. Wenn man nicht aus einer regelmäßigen Übung kommt, braucht der Körper etwa drei bis vier Tage, um eine genügende Konstitution aufzubauen. Dann aber geht es gut. Für mich kam als Erschwernis hinzu, dass ich mir in Neapel einen Darmvirus eingefangen hatte, der zu dem bekannten Hochgeschwindigkeits-Heinz führte. Dank der Fürsorge der neapolitanischen Mitbrüder (Tabletten und Diät) war dem ungezügelten Treiben Einhalt geboten worden, dies allerdings so nachhaltig, dass die anfängliche Freude, sich nicht alleweil nach geeigneten Lokalitäten umsehen zu müssen, zunehmend dem innersten Wunsch nach etwas mehr Aktivität in diesem Bereich gewichen ist (soweit, handlungsbegleitend, das aktuelle medizinische Bulletin).
  • Auf der Höhe machten wir Mittagspause, aßen etwas und zogen uns zu grunzendem Schlaf und entspannter Lektüre in den Schatten zurück (empfehlenswerter Roman: Lucero & Vicentini: Das Geheimnis der Pineta). Die Temperaturen werden, zumal in einem kühlen Frühsommer wie diesem, ab drei oder vier Uhr wieder erträglich, so dass wir nach wenigen Stunden Mittagspause weiterfahren können. Von der Höhe geht es hundertfünfzig Meter hinab in das Tal des Tanagro. Dort hat bei Pertosa ein Fluß sich unterirdisch durch den weichen Stein gegraben und durch emsige Arbeit in einigen hunderttausend Jahren eine besuchenswerte Grotte hinterlassen. Beim Warten auf die nächste Führung durch die Grotte machen wir schon zum zweiten und bei weitem nicht zum letzten Mal die Erfahrung, dass Italiener, denen wir freimütig von unseren Reiseplänen erzählen, mit gewichtiger Miene uns davon abraten, in die kalabrischen Berge zu fahren -- wenn wir denn überhaupt in dieses gefährliche Land Kalabrien würden reisen wollen. Mit der Zahl dieser Warnungen entsteht so vor den Augen des Reisenden das immer deutlichere Bild eines kalabrischen Hotzenplotzes, mit Säbeln im Gürtel und der Pfefferpistole in der Hand, mit der er uns überfallen, entführen, morden oder, schlimmer noch, unserer Räder berauben würde.
  • Gegen Abend geht es noch einmal, hinlänglich erschöpfend, auf 450 m Höhe, zum Eingang der weiten Hochebene des Tanagro, Vallo di Diano geheißen. An einem Hang zum Eingang der Ebene bei Polla bereiten wir uns auf dem Kocher ein leckeres Abendessen mit einem guten Schluck italischen Weines. Für die Nacht steht unweit ein Rohbau, der luftig und schützend zugleich ist. Mit Matten und Schlafsack findet man dort ein bequemes Nachtquartier, der mitgebrachte 4-Liter-Wassersack ist ausreichend für eine gepflegte Toilette. Es ward Abend, es ward Morgen:

2. Tag Mittwoch, 25.06 Polla - Passo la Colla 77,0 km

  • Abfahrt wie immer um viertel nach sechs. Das medizinische Bulletin bleibt ohne Eintrag. Angenehme Fahrt auf der Nationalstraße 19. Die N 18, auf der wir Salerno verließen und die uns fast durchweg bis Reggio führen wird, werden wir erst morgen an der Küste wieder treffen. Da parallel zu unserer Route die ab Salerno gebührenfreie Autostrada del Sole führt, ist die Nationalstraße ausgesprochen angenehm zu fahren. Nur selten auf der ganzen Tour haben wir den Verkehr als unangenehm empfunden. Nach einer guten Stunde Fahrt frühstücken wir im Garten der Kartause von Padula. Selbige steht anschließend auf dem touristischen Programm. Padula gilt als die größte der vielen Kartausen, die bis zur französischen Revolution entstanden. Prachtvoll und ein wenig monomental ist die Renaissance-Anlage. Sicher gehört dieser Ort zu den "versteckten Kleinoden" Süditaliens. In einer kleinen Bar nebenan werden eifrig Postkarten beschriftet; dort wird auch (medizinisches Bulletin) beim Stoffwechsel wiederum die Erfahrung gemacht, dass manchmal selbst hartnäckiges Mühen von keinerlei Erfolg gekrönt wird.
  • Wunderbar durch das schmaler werdende und dicht bewaldete Tal zieht sich die kaum befahrene Straße bis auf 784 m Höhe und fällt dann wieder etwas, an Lagonegro und Rivello vorbei. Kurz danach biegen wir auf eine kleine Straße ab, die zurück zum Meer führt. Auf der Höhe des Passo la Colla (594 m) campieren wir im Freien mit wunderbarem Blick über die Steilküstenstadt Maratea hinweg unter einem herrlichen Sternenhimmel.

3. Tag Donnerstag, 26.06 Passo la Colla - Paola 88,0 km

  • Selten ist es dem Menschen unserer Zeit gewährt, ganz aus seinem Innersten, in die Tiefe zu gehen, sich recht auszudrücken und loszulassen. Mit Stolz kann man dann stehen zu dem, was Anstrengung und Fleiß vollbracht haben, zumal wenn das Resultat der Mühe in seltener Kompaktheit vor Augen liegt! Soviel zum Abschluss des medizinischen Bulletins.
  • Pünktlich um viertel nach sechs brechen wir auf und fahren auf der Straße, die sich in Serpentinen zum Meer hinunter windet. Dort stoßen wir auf die N 18, die mal auf Meereshöhe, mal hundert Meter oberhalb als Tirrenia Inferiora, untere Küstenstraße am tyrrhenischen Meer, gen Süden führt. Wir verlassen den kurzen Küstenstreifen der Basilikata und erreichen zehn Kilometer hinter Maratea Kalabrien. Zuvor noch müssen die ersten beiden Platten der Tour geflickt werden. Wo und wie sich Christian gleichzeitig an Vorder- und Hinterrad einen Platten geholt hat, ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Im weiteren Verlauf der Fahrt sind wir von einem weiteren Platten bei mir und einer gebrochen Speiche bei Christian heimgesucht worden. Beide Schäden ließen sich aber problemlos beheben.
  • In Práia a Mare frühstücken wir am Strand; erstmalig ist Gelegenheit, im sehr klaren türkisfarbenen Meer zu baden. Dass der Sand nicht hell ist, sondern dunkelgrau dürfte, so vermute ich, mehr geologische als ökologische Gründe haben. -- Weiter geht es auf der erstaunlich gut ausgebauten Tirrenia Inferiora. Natürlich ist der Radler über jede erklommene Höhe stolz. Am Ort des Geschehens preist er aber auch den Straßenbau, der durch Tunnels und Brücken die Mühen etwas mindert. Auch hier kein nennenswerter Verkehr. -- Zum Mittag machen wir in einem Städtchen Station, das recht nett ist und einen klangvollen Namen führt: Diamante. Bemerkenswert ist der Ort durch Wandmalereien, die die Bewohner und auswärtige Künstler in diesem Jahrhundert bis zur Gegenwart als Schmuck auf die Fassade ihrer Häuser auftragen. Besichtigenswert ist auch eine Einrichtung der italienischen Telekom, die ich so noch nirgendwo zu Gesicht bekommen habe: eine Telefonzelle auf der Uferpromenade mit eingebauter Klimaanlage, sehr praktisch.
  • Heutiges Etappenziel ist Paola, für das die Karte ein "Santuario di San Francesco" vermerkt. Selten liegen Sanktuarien an der Küste, so ist auch vor diese Frucht der Schweiß gesetzt. Der Heilige Franziskus aber, dessen Heiligtum in einem schmalen Tal zu finden ist, ist nicht etwa der von Assisi, sondern eben von Paola. Inspiriert auch von der fratres minores aus Assisi hat sich Franziskus von Paola ( 1507) mit Gefährten in eine Grotte zurückgezogen und eine Gemeinschaft gegründet, die sich die fratres minimi nennen; der deutscher Name, Minimen oder Mindeste Brüder, dieser fast nur in Italien und Brasilien verbreiteten Gemeinschaft war mir bis dahin nicht bekannt. Die gegenüber den Franziskanern verschärfte Askese kommt unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass die Brüder von Paola in ihrer Regel den Gebrauch jeglichen Fettes beim Kochen verboten haben. Aus der Entwicklung des Franziskanerordens hat Franziskus von Paola gelernt und daher, Hintertürchen zuschlagend, eigens vermerkt, dass diese strenge Regel sowohl für die Zubereitung der Speisen für die Brüder innerhalb wie auch für eine Verfertigung der Speisen außerhalb des Klosters gelte. Andernfalls wären die fratres minimi sicher zu den Erfindern des Essen auf Rädern geworden und hätten sich feinen Speisen frei Haus liefern lassen.
  • Andächtig beten wir mit den Brüdern und den anderen Pilgern Rosenkranz und Lauretanische Litanei und feiern miteinander die Hl. Messe. Für die Nacht können wir auf dem Picknick-Platz oberhalb des Klosters sehr gut bleiben. Der dort einige Meter stürzende klare und kalte Bach ist eine erfrischende und wohltuende Dusche zur Nacht.

4. Tag Freitag, 27.06 Paola - Vibo Valéntia 96,0 km

  • Um halb sechs piepst Christians Wecker. Um viertel nach sechs, mit einer Tasse Tee und ein paar Keksen im Bauch geht es weiter. Amantea liegt dreißig Kilometer südlich von Paola reizvoll mit einer Burg gekrönt an der Küste. Dort steigen wir etwas in die höheren Straßen und machen unsere Frühstückspause.
  • Da Reggio langsam näher rückt und uns einige Zeit bleibt, machen wir ausschweifende Pläne für den weiteren Reiseverlauf. Sizilien möchte ich nicht betreten, sondern nur sehnsuchtsvoll von der anderen Seite der Straße von Messina erblicken. Die Insel sollte einen eigenen Sommer wert sein. Dagegen wäre es wunderbar, mit einer Fähre an Sizilien vorbei einen Abstecher nach Malta zu machen oder mit einer anderen Fähre nach Sardinien zu fahren, um diese Insel zu durchqueren. Schon in Amantea aber gibt das Reisebüro eine Auskunft, die sich in Reggio bestätigen wird. Fährverbindungen zu den Inseln gibt es nur von den Mittel- und Norditalienischen Häfen aus. Niemand fährt von Süden mit der Fähre nach Sardinien und Malta wird nur einmal wöchentlich angesteuert. Zu wenig für uns.
  • Die Mittagspause bei St. Eufémia in der gleichnamigen Ebene verläuft wenig geruhsam. Starken Wind hat man in Süditalien eigentlich immer. Hier aber fegte ein heißer und gänzlich trockener Sturm übers Land, dass wir nur mit Mühe unsere mittägliche klare Brühe zustande bekommen haben. Als uns dann der Wind auf der weiteren Strecke (in weitem Bogen um einen Flughafen) aus allen Himmelsrichtungen immer nur entgegen blies, war dies der Stimmung und Kondition nicht gerade förderlich. Lieber tausendmal ein Berg erklimmen als gegen Wind im Flachland anstrampeln! Zum Glück fand auch diese Etappe ein Ende. Am Schluss hatten wir den Wind sogar ein wenig im Rücken. Zum Abend ging es hoch in das auf 476 m gelegene Vibo Valéntia, Hauptstadt einer kleinen Provinz.
  • Als wir wassermelonenverzehrenderweise an einer Kreuzung pausierten, konnten wir das wundersame Schauspiel von zahllosen Autos aus verschiedenen Gegenden beobachten, die alle mit Familienvätern mit Krawatte und mehr oder weniger familiärem Anhang besetzt waren. Anfängliche Versuche, das Phänomen zu interpretieren, scheiterten. Haben Väter ihre Kinder von einem Internat abgeholt, am Freitag nachmittag? Dann aber gab es Autos ohne Kinder. Ein Kongreß von Mariapolis? Schließlich fiel uns ein Namensschild auf, das die meisten der Väter am Hemd resp. Revers trugen. Natürliche Scheu überwindend haben wir dann durch offene Befragung der Insassen eines Autos herausgefunden, dass die Kolonnen allesamt von einem Kongreß der Zeugen Jehovas kamen. Der von uns Befragte macht sich sicher noch heute Vorwürfe, dass er unser offenkundiges Interesse durch zwei Exemplare des Wachturm (italienisch) abwimmelte, statt sich Zeit für unsere Bekehrung zu nehmen.
  • Dunkel habe ich den Namen einer Stadt im Gedächtnis, die Friedrich II. ganz furchtbar für ihren Abfall strafte; Vibo Viterbo, das stolze Vibo nannte er sie, wenn ich mich recht erinnere (oder war es die mittelitalienische Stadt Viterbo?). Vielleicht finde ich die Sache noch einmal. Ob es dieses Vibo ist, weiß ich nicht. Ganz furchtbar bestraft wurde Vibo Valéntia aber wie alle Städte Kalabriens durch ein starkes Erdbeben im frühen 18. und zwei kleinere im frühen 20. Jahrhundert. Nicht viel aus alten Zeiten ist daher erhalten. Da zudem wenige Gegenden so sehr unter Fremdherrschaft und Ausbeutung zu leiden hatten wie Süditalien, gibt es hier auch viel weniger an stolzen Bauwerken zu besichtigen als im Norden. Die antiken Städte der magna graecia am Meer gingen an der Malaria (die Entwässerung verfiel) und an den Überfällen der Piraten zugrunde. Die Menschen zogen sich in die Berge zurück und kehrten erst nach der italienischen Einigung im letzten Jahrhundert zurück. Daher gibt es in ganz Kalabrien Städte oben am Hang mit zugeordneten Küsten-Siedlungen, die dann "marina" an den alten Ortsnamen anhängen.
  • Vibo selbst gehört zu den schöneren Städten der Region und hat noch große Teile einer mächtigen Normannenburg vorzuweisen. Mit einem langen Spaziergang durch die Gassen der Stadt haben wir so einen schönen Abend genossen und sind zur Nacht in einer Herberge in der Stadt geblieben.

5. Tag Samstag, 28.06 Vibo Valéntia - St. Eufémia 66,0 km

  • Zum letzten Mal bis Reggio fuhren wir auf der N 18, die nur selten durch zu starken Verkehr unangenehm wurde, sonst aber eine gute Straße für Radfahrer ist. Zum Frühstück machten wir im Städtchen Rosarno Station, das wie keine andere Stadt auf uns einen lustlosen, heruntergekommenen Eindruck machte. Viele halbangefangenen Bauten, viel in Beton. Vielleicht ist die Stadt bei einem Erdbeben vor fünfzehn Jahren besonders beschädigt worden und hat sich nicht erholt. Ist es Zufall, dass nur hier in einer ganzen Stadt keine frische Milch aufzutreiben war? Städte haben Seelen, und wer mit dem Rad fährt, spürt diese schnell.
  • In der Ferne sieht man bereits eine Landzunge Siziliens um die Ecke schauen. -- In Grimoldo, gleich hinter Palmi verlassen wir die N 18; über einen 568 m hohen Rücken geht es in das auf 450 m gelegene St. Eufémia d'Aspromonte. Von hier beginnt der Aufstieg in Serpentinen zum Aspromonte, dem Zentralgebirge Südkalabriens, dessen höchster Berg 1955 m misst. Nach etwa der Strecke finden wir eine wunderbare Felsnase, von der aus man einen Ausblick weit in die Bergwelt hat. Gibt es bessere Orte für ein selbstbereitetes Abendessen im Sonnenuntergang? Vielleicht wären wir zum Schlafen 10 Minuten weiter gefahren, wenn wir geahnt hätten, dass dort frisches Wasser ist. -- Leider hat uns in dieser Nacht ein Mückenzeug heimgesucht, dessen Bisse den Christian zombihaft entstellten und auch mir durch Jucken lange die Erinnerung bewahrten. Da wir bisher mit Mücken keine Probleme hatten, hatte ich in dieser Nacht mein Moskitonetz nicht aufgespannt. Ein Fehler, den ich fortan vermied.

6. Tag Sonntag, 29.06 St. Eufémia - Reggio C. 52,0 km

  • Zum Aufstehen (diesmal später und mit Frühstück, zur Feier des Sonntags) haben wir noch einmal den phantastischen Blick über die Hügel zum Tyrrhenischen Meer. Dann beginnt der Aufstieg zur Hochebene vor den Spitzen des Aspromonte, die auf 1200 bis 1350 Meter liegt. Entsprechend frisch (25 C) sind die Temperaturen. Die Ebene ist fruchtbar und wird landwirtschaftlich genutzt. Für das südliche Klima auffällig ist der viele Farn der allenthalben sprießt. Weiter oben in schattigen Laub- zumeist Eichenwäldern warten zahllose Picknick-Landschaften auf Unmengen von Italienern, die die heißen Küstenstreifen fliehen um hier oben mit Kind und Kegel und riesigen Picknick-Körben den Sonntag zu verbringen. Bis Gambàrie, wo für uns die Abfahrt Richtung Reggio beginnt, kommen zahllose dieser nett angelegten öffentlichen Picknick-Anlagen.
  • Gottesdienste in der römischen Innenstadt sind eine liturgische Katastrophe. Da wird die Messe durch die Kirche wie eine Sau durchs Gehölz gejagt. Außerhalb Roms hat sich in Italien einiges getan; vielerorts versuchen Gemeinden auch Lieder in den Gottesdienst einzufügen und haben ein ansehnliches Liedgut zusammengetragen. Dennoch dauert ein Sonntagsgottesdienst in Italien nicht mehr als fünfundvierzig Minuten. Außer in Santo Stefano in Aspromonte. Dort dauerte es eineinhalb Stunden. Die Taufe in der Messe ist dafür nur die halbe Erklärung. Die dramatische Predigt des Pfarrers ist auch nicht allein dran schuld. Es war, wie ich es in Italien noch nie erlebt habe, eine gelungene, feierliche und fröhliche Messe, bei der alle mitgemacht haben und auch alle bis zum Schluss blieben. Ein schönes Erlebnis.
  • Mit kleinen Zwischensteigungen fällt die Straße bis zum Meer. Auf der anderen Seite ist im Dunst des Nachmittags Sizilien nur undeutlich auszumachen. Zehn Kilometer noch sind es von Gàllico bis in die Innenstadt von Reggio, wo wir bei den Jesuiten angesagt sind, die gegenüber den Resten einer aragonesischen Burg, bei der Chiesa degli Ottomati in einer Residenz mit sechs Mitbrüdern wohnen.

7. Tag Montag, 30.06 Reggio C. 0,0 km

  • Am siebten Tag ruhten die Radler und blieben in Reggio.
  • Reggio Calabria wird niemand als Perle des Mittelmeers bezeichnen wollen. Nicht von ungefähr zieht es daher praktisch keine Touristen an. Wie ganz Kalabrien wurde es vom Erdbeben fast völlig zerstört und gibt es praktisch keine Bauten, die vor 1750 gebaut wurden. Dennoch hat die Stadt durchaus Charme und macht es Spass, einen Tag in ihr zuzubringen, hier den Dom und dort eine Kirche anzuschauen, in einer Bar bei einem Kaffee zu verweilen und den ganzen Abend den Corso auf und ab zu schlendern.
  • Eine Sehenswürdigkeit hat die Stadt doch: Die Sammlung des kalabrischen Nationalmuseums. Ich betone: die Sammlung ist aufregend, nicht ihre Präsentation im Museum. Dass dieses rund 200 Mitarbeiter beschäftigt, obwohl es verhältnismäßig klein ist, hat sich ausschließlich in guter Versorgung der Betroffenen mit öffentlichen Geldern ausgewirkt, nicht in der Qualität des Museums. So war der Mitarbeiter, der für die Ausgabe der Kopfhörer zuständig ist, an diesem Tag zuhause geblieben und keiner der vielen anderen fühlte sich bemüßigt, dafür einzuspringen. Was aber hier zusammengetragen wurde von der tyrrherenischen und ionischen Küste lohnt einen Besuch. Bedeutenste Exponate sind zwei vollständig erhaltene überlebensgroße Statuen zweier Krieger (?) aus dem 5. Jh. v. Chr., in Messing gegossen. Man ahnt etwas davon, dass die Kolonien der magna graecia dem griechischen Mutterland kulturell weit voraus war. Pythagoras etwa hat hier gelehrt, während man in Athen gerade das kleine Einmaleins entdeckte.

8. Tag Dienstag, 01.07 Reggio C. - Siderno 102,0 km

  • Durch die Straße von Messina weht ein stetiger und heftiger Wind, der uns wie im Flug an den äußersten Südzipfel der Apenninhalbinsel gebracht hat. Sizilien immer im Blick nach rechts fuhren wir auf der ebenfalls gut ausgebauten und auch nicht sonderlich befahrenen N 106, der für die schönsten Strände berühmten Ionica. Tourismus gibt es hier praktisch nicht. Das Hinterland der Küste hat nur die alten Städtchen, zu denen die jeweilige marina gehört, weiter hinten gibt es nur das Hochgebirge des Aspromonte. So waren die hundert Kilometer hinter Reggio verkehrsarm und zudem selten nur durch Steigungen unterbrochen. Bei frischem Wind ist es eine der schönsten Küstenstraßen.
  • An der Straße liegt das antike Locri. Allerdings gehören die Ausgrabungsstätten zur bekannten Sorte: Wirklich erhalten ist nur ein Säulenstumpf. Mit nur wenigen Stunden intensiver Lektüre der einschlägigen Fachliteratur wird es dem Betrachter mühelos gelingen, über dem Säulenstumpf nicht nur den facettenreichen Aufbau des Tempels, sondern das architektonische Gefüge der ganzen Stadt vor seinem geistigen Auge erstehen zu lassen. Wir hingegen, Banausen die wir sind, ließen die Ausgrabungsstätten links liegen, um am Strand hinter Siderno zu campieren.

9. Tag Mittwoch, 02.07 Siderno - Fabrízia 45,0 km

  • Wir wurden belohnt. Rechtzeitig geweckt am nächsten Morgen hatten wir einen wunderbaren Sonnenaufgang über dem mar iónio. Sicher hätte es einiges für sich, statt im Schlafsack am Strand und in den Bergen bequem in einer Pension zu übernachten oder die Reize eines touristengemäß animierten lärmigen Zeltplatzes zu genießen. Ab und an legt sich dies ohnehin nahe, weil eine kräftige Dusche dem Wohlbefinden durchaus zuträglich ist. Die aber kann man zu hause täglich haben, während in Ländern, wo dies klimatisch möglich ist, das Nächtigen unter freiem Himmel doch ein Erlebnis der besonderen Art ist.
  • Der Tag wurde anstrengend. Von Marina di Gioiosa Iónica geht einige Kilometer tief ein Flußdelta ins Landesinnere. Dann beginnt der Aufstieg. Zunächst sind wir bis zu einem kleinen Dörfchen namens Grotteria gefahren, das es verdienen würde, auf der Landkarte als sehenswert vermerkt zu werden. Steil in den Felsen gebaut hat es eine wunderbare Aussicht und ist nett herausgeputzt. Nein, eigentlich reicht dies nicht zur Beschreibung des Phänomens. Zur Erklärung kam uns nur die Vermutung, dass von hier aus besonders viele zur Gastarbeit in Deutschland und der Schweiz gewesen sein müßten. In ganz Italien haben wir keinen Ort und keine Gegend gesehen, wo die Straßen so auffällig sauber gepflegt wurden wie hier. Während sonst die Italiener den Straßengraben als Müllkippe benutzen, die sie von Zeit zu Zeit thermisch entsorgen, ist es uns an der ionischen Küste und der folgenden Strecke aufgefallen, wie sauber die Straßen im Ort und die Ränder auch außerhalb waren.
  • Grotteria liegt auf 317 m. Von dort geht die Straße in vielen Serpentinen auf 1110 m. Nach jeder zweiten Kurve öffnet sich wiederum der Blick und man schaut immer weiter über die darunter liegenden Hügel auf die Küste und das weite Meer. Was man sich nicht vorstellen kann, wenn man nur den nördlichen Apennin, die Toskana etwa oder auch Apulien (die foresta umbra sei gepriesen), kennt, ist das Ausmaß, in dem die Berge der Basilikata und insbesondere Kalabriens bewaldet sind. Für den Deutschen, der die Eiche als den teutonischen Baum schlechthin vereinnahmt hat, überrascht insbesondere, dass die Eiche in vielen dieser Wälder der vorherrschende Baum ist, während Nadelhölzer sehr selten sind. Vielleicht braucht es die dichten Wälder ja auch nur, damit die Banditen in den Bergen sich besser verstecken können. Aber auch hier wurde uns das Erlebnis der Begegnung mit denselben versagt. -- Die Straße hoch zum Pass ist durch solche dichten Laubwälder gesäumt, so dass man immer wieder im Schatten der Bäume fahren kann. Ich kann mich kaum an eine Strecke von vergleichbarer Schönheit erinnern.
  • Oben am Passo Croce Ferrata sind wieder, für die Sonntage der hitzegeplagten Küstenbewohner hergerichtet, weite Picknick-Flächen (auch diese nicht vermüllt). An einer dieser Stellen haben wir zu Mittag eine lange Pause gemacht. Ein paar Kilometer weiter haben wir uns dann gegen Abend mit Lebensmitteln und frischem Wasser versorgt und an einem geeigneten Ort im Freien übernachtet.

10 Donnerstag, 03.07 Fabrízia - Pizzo 65,00

  • Aus der Großstadt Köln und der lärmigen Universitätstadt Reims, wo er Rektor der Universität war, hat es den Heiligen Bruno in das abgelegenste Tal der Alpen gezogen, um dort mit seinen Gefährten die erste Kartause, die grand chartreuse, zu begründen. Leider war ihm die Abgeschiedenheit nicht gegönnt: einer seiner Schüler war in Rom Papst geworden und holte Bruno als Berater an den Apostolischen Stuhl. Wer weiß, ob Bruno nicht insgeheim dem Canossa-Kaiser Heinrich IV. dankbar war, dass dieser 1084 in Rom einmarschierte und dadurch Urban II. und mit ihm Bruno zur Flucht zwang. Die Flucht führte zum Bischof von Reggio Calabria. So konnte Bruno zum zweiten Mal eine Kartause gründen: in den Bergen Kalabriens unweit des heutigen Städtchen Serra San Bruno.
  • Im Unterschied zur Kartause von Padula ist die Kartause von Serra heute wieder besiedelt. Dies hat für den Besucher die unangenehme Folge, dass man außer hohen Mauern nichts sieht, da die Kartäuser ein strenges Einsiedlerdasein führen. Nur zwei Gebetszeiten und die Messe sind gemeinsam und auch dazu kommt man als Auswärtiger nicht hinzu. Dennoch geht von diesem Kloster eine Kraft aus, die man der ganzenKirche von Herzen wünscht. Nicht umsonst sind die Kartäuser der einzige Orden der Kirche, der ohne jede Reform der Statuten ausgekommen ist und sich dennoch bis heute den Geist der Gründung bewahrt hat. Zum Glück wurde vor einigen Jahren in einem nahe am Kloster gelegen Bau eine hervorragend gestaltete Ausstellung eingerichtet, die über die Geschichte und das Leben der Kartäuser informiert. So wird das Zeugnis dieses Lebens für die Besucher doch etwas konkreter, nachvollziehbar.
  • Nach einigen Stunden im Schatten der Pinien vor dem Kloster sind wir am Nachmittag aufgebrochen und die fast durchweg fallende Straße zurück zum tyrrhenischen Meer gefahren. Dort kamen wir in etwa dort heraus, wo wir fünf Tage zuvor auf die Karawane der Zeugen Jehovas getroffen waren. Statt aber wieder nach Vibo Valéntia hinaus zu fahren, sind wir nur in das nahe Pizzo gefahren, zu dem auf halber Höhe nach Vibo ein Bahnhof gehört. Dort haben wir unter dem Staunen und den Kommentaren der Umstehenden das spetaculo publico der Demontage unserer Fahrräder gegeben, die nach einer dreiviertel Stunde in Plastiksäcke und Kartons gekleidet wie leicht zu groß geratenes Reisegepäck aussehen sollten.
  • Schon im Ort Pizzo selbst hatte ich erfahren, dass der Betreiber der Bar im Bahnhof einen Bruder habe, der unten am Meer ein Restaurant betreibt. Wir hatten gehofft, dass wir daher beim Bruder am Bahnhof unser Gepäck lassen könnten, um dann unbeschwert runter ans Meer zu fahren. Da aber die Bar schon zwei Stunden vor der Abfahrt des Zuges schließt, haben wir umdisponiert, die fertig demontierten Räder abgeschlossen und am Bahnhof gelassen und sind mit einem Taxi ans Meer gefahren (zumal uns zugesichert wurde, der Padrone des Restaurant werde uns zeitig an den Zug bringen). Auf diese Weise konnten wir die Tour durch Italien mit einem ruhigen und gediegenen Abendessen am mar tirreno beschließen.
    Um Mitternacht ging es dann mit dem Nachtzug nach Rom, von wo ein EuroCity bis München durchfährt.

 

 

Author: Martin Löwenstein SJ



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