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Fahrradtour 23. Juni bis 5. Juli 1998 Görlitz -Ranizów

Martin Löwenstein SJ

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Nachdem die Radtour des letzten Jahres auf dem italienischen Festland bis an die Südspitze geführt hatte, sollte dieses Jahr endlich eine längere Tour nach Osten möglich werden. Dass daraus dann doch ein verhältnismäßig kurzer Radurlaub geworden ist, liegt weder am Land noch an der Kondition sondern am seit langem schlechtesten Sommerwetter. Zum erstenmal in zwanzig Jahren Radlerkarriere habe ich eine Sommertour wegen des Wetters abgebrochen. Nachdem uns der Sommer (in Mittel-Nordeuropa) nur regelmäßigen Regen bei mittelmäßigsten Temperaturen zu bieten hatte, haben wir nach Zweidrittel der Zeit abgebrochen, da auch für die folgende Woche nur noch mehr Regen bei ca. 16 C zu erwarten war. Das haben wir uns erspart; es bleibt uns so die Erinnerung an die zwei guten Wochen in einem interessanten Land.

1. Tag Dienstag 23.06.98
( Frankfurt/Main - Erfurt - Görlitz) Görlitz - LubaÒ
Km: 38,0 / 38,0

Am Vortag war ich nach Erfurt gekommen, wo Ansgar, mit dem zusammen ich 1990 und 1991 nach Loyola und 1996 nach Neapel gefahren war, seit drei Jahren Pfarrer der Jesuitenpfarre ist. Die Reisevorbereitungen waren wieder einmal zu kurz ausgefallen. Beim Gepäck hatte ich zwar nichts Wichtiges vergessen, dafür war das Fahrrad in denkbar schlechtem Zustand. Die Bremsen konnte ich im InterRegio nachstellen. Den Mantel habe ich nicht mehr auswechseln können: die 27-Zoll Größe gab es in Erfurt nicht, weil diese Radgröße nicht mehr produziert und daher die nach der Wende erst eingerichteten Läden diese mehr vorrätig haben.

Am Dienstag früh sind wir zuerst mit dem Zug bis Görlitz gefahren. Im InterRegio gibt es in Deutschland mittlerweile gute Fernverbindungen mit Fahrradmitnahme. Da wir diesseits der Grenze aus dem Zug ausgestiegen sind, konnten wir die Räder mit einem normalen Fahrrad-Ticket für DM 7,50 mitnehmen; der grenzüberschreitende Fahrradtransport - wenn man das Rad nicht als Reisegepäck auf- und damit aus der Hand geben will - ist immer noch eine schwierige Sache.

Görlitz als Stadt war eine Überraschung. Ein geschlossenes Stadtbild mit schönen Häusern, Kirchen und Anlagen aus verschiedenen Epochen machen sicher eine Besuch lohnenswert. Wir haben das nur unzureichend goutiert und sind - zusammen u.a. mit einer Polin, die eine gebrauchte Waschmaschine auf einer Handkarre unter dem Zollbaum durchschob - über die Oder gefahren und haben gegen 16.00 Uhr polnischen Boden betreten.

Der polinische Teil von Görlitz - Zgorzelec - ist weit weniger sehenswert als der westliche. Vermutlich hat es auf dieser Seite nie ein Stadtzentrum gegeben, sondern waren es immer nur Wohngegenden auf dem anderen Ufer. Mit überall problemlos einzuwechselnder Landeswährung und mit etwas Verpflegung für die Spirituskocher-Küche sind wir noch etwas in¥s Landesinnere gefahren und haben uns einen Zeltplatz ausgesucht. Das ist in Polen leider nicht so leicht, da Zelten bei den Einheimischen verpönt ist und die freundlichen Menschen mit den Wohnwagen und gelben Nummernschildern das Land noch nicht in ihre europaweiten Expansionspläne aufgenommen haben. Daher waren wir hier wie fast immer die einzigen Zelter auf dem Platz. Alle Plätze haben daneben aber auch einfache Bungalows, die wohl nicht nur für Feriengäste, sondern auch für Wanderarbeiter (sprechen nur polnisch und können uns daher nicht so genau erklären, was sie machen) da sind. Da letztere an unserem Zelt gegen Abend mit Feuerholz und großen Mengen Wodka-Flaschen vorbeizogen, um unweit abendliche Geselligkeit zu üben hat Ansgar einen verhängnisvollen Wunsch gen Himmel geschickt: es möge bald regnen, damit die FÍte ein ebenso baldiges Ende nehme. Der Wunsch wurde gnädig erhört, noch während wir ein Nudelgericht mit Tomaten und polnischer Wurst und einem der Biere, die den hohen kulturellen Standard dieses Slawenvolkes belegen, verzehrt haben. (P.S.: Um das Ergebnis der vierzehntägigen landeskundlichen Studien in Sachen "Piwo" vorwegzunehmen: Die Marke Ziwiec (mit Punkt über dem Z), benannt nach der gleichnamigen Stadt, war eindeutiger Sieger, auch wenn wir öfter und gerne mit anderen Sorten abgewechselt haben).

2. Tag Mittwoch 24.06.98 LubaÒ - Jelena Góra (Hirschberg) Km: 63,3 / 101,3
LubaÒ - Lubomierz - Jelena Góra

Immerhin: es hat nicht den ganzen Tag geregnet. Immer wieder hat die geschlossene Wolkendecke, wiewohl bedrohlich dunkel vom Westwind getrieben, für mehrere Minuten beschlossen, uns nicht mit ihren Inkontinenzproblemen zu behelligen, so dass wir nur mit Spritzwasser von unten, nicht mit Nieselregen von oben zu kämpfen hatten. Aber, wie gesagt, das ging schnell vorüber. Ansgar mit Gore-Tex-Jacke, ich mit weit hinter dem Fahrrad wehendem Regen-Poncho kämpften tapfer und sind bis zum Abend tatsächlich ein bisschen weiter gekommen. Mit Boris B. formuliert, waren wir am Abend "mental schlecht drauf". Beim Einzug in Jelena Góra ist mir zudem noch die Kette gerissen, immerhin ein Ereignis mit dem Erlebniswert des noch nicht da gewesenen. Dass wir unter diesen Umständen nicht das Zelt aufgeschlagen, sondern auf dem Campingplatz ein günstig angebotenes Bungalow-Zimmer (mit Bad!) genommen haben, bedurfte keiner langen Erörterung unter den Reisepartnern.

Dem seit Beginn des Briefes nach kulturellen Schilderungen dürstenden Leser sei erklärt, dass unser diesbezügliches Bedürfnis aufgrund der Wetterlage aktuell unterentwickelt war. Unterwegs haben wir - es regnete gerade nicht - Station in Lubomierz gemacht. Das ehemalige Benediktinerkloster ist seit der Säkularisation verlassen und die Gebäude scheinen teilweise zu verfallen. Durch ein Gitter konnten wir aber etwas von der gut gepflegten Kirche erhaschen. Von Hirschberg aber, dem abendlichen Ziel des Tages, haben wir gerade noch durch die Regenschlieren zur Kenntnis genommen, dass die Stadt mit ca. 90.000 Einwohnern auch nette Wohngegenden hat. Uns aber zog es, nach Reinigung und Aufwärmung, in eine unweit des Platzes gelegene Pizzaria. Diese wird von einem Calabresen betrieben, mit dem ich mich erst auf Italienisch verständigte, bevor er merkte, woher wir kommen, und uns in fließendem Deutsch seine Karte erläuterte. Er ist, wenn wir es richtig beobachtet und interpretiert haben, mit einer Polin verheiratet und hat mit dem Laden beim einheimischen Publikum genug Anklang, um sein Auskommen zu haben. Beim Standard seiner Kochkünste hätte er in Italien auf jeden Fall mehr Mühe, ein Publikum zu finden.

3. Tag Donnerstag 25.06.98
Jelena Góra - Schr. Zygmuntówka
Km: 98,2 / 199,5
Jelena Góra - Kowary - Kamienna Góra (Landeshut) - Krzeszów - [Wa>brzych (Waldenburg)] - Jedlina-Zdrój - G>uszyca - Sierpnice - Sokolec - Schr. Zygmuntówka

Am nächsten Morgen hat es: nicht ! geregnet. Zeitig haben wir unsere noch klammen Sachen gepackt und sind aufgebrochen. Einige Kilometer weiter bot sich in einem kleinen Örtchen (Mys>akowice) ein schönes Plätzen für das Frühstück. Ein gut erhaltenes und gepflegtes, wohl als Internat genutztes Renaissance-Schlösschen mit zwei hohen Storchen Türmen, deren einer auch bevölkert war, bot uns mit den Bänken in dem sehr gepflegten Vorgarten den Ort zu einem ebensolchen Frühstück (frischer Kaffee vom Kocher, Brot mit Marmelade, Kekse und Obst).

Die niederschlesische Landschaft, durch die die Tour führt, gehört zu dem schönsten, was Europa zu bieten hat. Durchaus mehr bergig als hügelig sind die Höhen doch so weich, dass der Eindruck nicht wie in den deutschen Mittelgebirgen, sondern eher wie Teile des Allgäu sind. Die Straßen haben wir auf dem ganz Weg durch Polen in einem sehr zufriedenstellenden Zustand angetroffen; der Verkehr ist erheblich dünner als in Westeuropa oder auch in Ungarn. Wenn man sorgfältig die Straßen aussucht kann man geradezu einsam über gut geteerte Landstraßen fahren. Nicht nur die Straßen, auch die Orte und Häuser sind in deutlich besserem Zustand als in der früheren DDR. Dies erstaunt umso mehr, als viele Bewohner dieser Häuser dort als Flüchtlinge aus den polnischen Ostgebieten angesiedelt wurden und sich dank der Rhetorik westdeutscher Vertriebenenverbände bis heute nicht sicher sein können, ob sie diese Häuser, in denen sie nun seit einem halben Jahrhundert wohnen, auch behalten können. In geradezu hervorragendem Zustand - vergleicht man es mit der DDR - sind die Kirchen. Leider kann man aber häufig nur durch ein Gitter am Eingang hineinlugen, die Kirche selbst aber nicht betreten.

Nördlich von Glatz führte uns der Weg über einen Höhenrücken, der bis nahe an die tausend Meter heranführt. Für den ersten Aufstieg hat uns die Karte in die Irre geführt: Das Wort Aufstieg hat uns unverhofft wörtlich erwischt. Was als gelb markierte Straße eingezeichnet ist, mutiert, je höher man kommt, zum grobschottrigen Bergpfad mit 20% Steigung. Die dadurch verursachte Anstrengung aber hat sich gelohnt: eine der wenigen gut erhaltenen Holzkirchen Südpolens in Sierpnice und eine einsam-schöne Landschaft wären uns andernfalls entgangen.

Oben am Pass bei ca. 850 Meter steht eine kleine Schutzhütte nahe einer Wiese, die einen weiten Blick nach Südwesten in das Land freigibt. Einen schöneren Platz für die Nacht konnten wir uns kaum ausdenken und da wir vorausschauender Weise im Dorf zuvor den großen Wassersack gefüllt hatten, ließ sich die Übernachtung auf freiem Feld auch gut einrichten. Dass es Ansgar gelungen ist, zehn Minuten entfernt ein einem Waldgasthaus noch frisches, kühles Bier zu organisieren (eine Flasche für jeden und eine für die Mitbrüderlichkeit) hat dem Abend das i-Tüpfelchen aufgesetzt.

4. Tag Freitag 26.06.98 Schr. Zygmuntówka - Otmuchów Km: 84,5 / 284,0
Schr. Zygmuntówka - Pieszyce - Bielawa - Zabkowice ¶l. - Kamieniec Zabk. (Zamek Hohenzollernów) - Patschków - Otmuchów

Der neue Tag ließ sich gut an, was auch kein Wunder ist, wenn man erst einmal die lange Abfahrt verkosten kann, die man sich am Vortag hart erarbeitet hat. Tagesziel waren die Seen bei Nysa (Neisse), knapp an der tschechischen Grenze. Dass wir dann doch nur bis zum ersten der beiden Seen gekommen sind, hat seinen Grund in dem gegen Abend wieder einsetzenden Regen. Von unterwegs ist ein Städtchen namens Kamieniec zu erwähnen, das eine prächtige und große Klosterkirche vorzuweisen hat; die Klostergebäude werden derzeit im großen Stil renoviert. Als Gegenbild steht ein aufwendig-mächtiges Zamek (Burg/Schloß) oben auf dem Berg, das die Karte Hohenzollernów betitelt. Leider versagt uns der Du Mont-Kulturführer an dieser Stelle weitere Auskunft. So beschließen wir schon aus der Ferne das Schloß als häßlich zu empfinden und es (auch wegen der Steigung zur Bergesspitze) mit Nichtachtung zu strafen. Das Kloster ist nicht nur schöner, sondern liegt auch unten im Tal.

Station in Paczków, dem alten Patschkau. Die mittelalterliche Stadbefestigung ist noch fast vollständig erhalten. Der örtliche rynek (Markplatz) ist wie immer rechteckig um das Rathaus gebaut, von den abwechslungsreichen und schönen Fassaden der Bürgerhäuser geprägt und mit einem Straßencafé gesegnet. Bemerkenswert ist eine ganz ungewöhnlich schmale und hohe,dreischiffige gotische Hallenbasilika mit drei Patronaten: Maria und beiden biblischen Johannessen. Dadurch, dass das schräge Dach im 16. Jahrhundert eine Zinnenbewehrung erhalten hat, wirkt der Bau auch von außen höchst ungewöhnlich. - Näher haben wir uns auch mit einem der Stadttore befasst: wohl kaum zuvor ist es von Touristen für eineinhalb Stunden besichtigt worden, und das, obwohl wir uns auf den zweieinhalb Meter hohen und breiten und gut fünf Meter langen Durchgang beschränkt haben. Der heftig herniedergehende Gewitterregen hat es jedoch ratsam erscheinen lassen, das Äußere des Turmes bei anderer Gelegenheit zu begutachten.

Von hier bis Ottmachau begleitete uns der vertraute, teils nieselige, teils heftige Regen. Wie gut, dass sich hier die aus dem ausgehenden siebzehnten Jahrhundert stammende Barock-Kirche St. Nikolaus zur Besichtigung anbietet. Neben einem Turm der Stadtbefestigung und dem Renaissance-Rathaus leider alles, was in dieser einst sehr schönen Stadt den letzten Krieg überlebt hat. Da um 19.00 Uhr in der Kirche zudem auch noch eine Abendmesse war, konnten wir dort nicht nur kulturgenährt, sondern auch fromm verweilen, während draußen hörbar heftiger Regen herniedergeht. Leider hat sich dieser bis zum Ende der Messe noch nicht ganz gelegt. Daher beschließen wir, statt nach Nysa 10 km weiterzufahren, den im Ort ausgeschilderten Zeltplatz zu suchen. Das polnische Wort campingi auf jeden Fall kommt uns, als nach dem Weg Fragenden, leicht über die Lippen, während die wortreiche Antwort der Einheimischen nicht über das Ohr, sondern über die optische Wahrnehmung und die Interpretation der Gesten für den Fremden wegweisend werden muß. Eben jene Gesten zeigten zwar alle in dieselbe Richtung, nur leider viel zu oft und erst einige Kilometer hinter dem Ort zielführend, so dass wir genausogut auch nach Nysa hätten weiterfahren können. So aber konnten wir zumindest ein enges Bungalowzimmer am Platz allerdings bei Blick auf den See ergattern (Kosten für beide zusammen unter zehn Mark) und bei munterem Nieselregen unser Abendbrot kochen und verzehren.

5. Tag Samstag 27.06.98 Otmuchów - Racibórz (Ratibor) Km: 112,0 / 396,0
Otmuchów - Nisa (Neisse) - Prudnik (Neustadt) - Laskowice - Szonów - Krowiarki - Racibórz

Bis Sonntag Abend sollten/wollten wir in Krakau sein, wo wir uns angemeldet hatten, eine Priesterweihe am Montag mitzufeiern. Durch die Unbillen des Wetters waren wir jedoch Samstag früh noch weit vom Ziel entfernt. Daher haben wir uns der jedem Jesuiten in die Wiege gelegten Bescheidenheit nachgebend darauf verständigt, statt leistungs-protzend mit dem Rad bis Krakau bei Bedarf das letzte Stück mit dem Zug zu fahren. Zum Glück hat uns das Wetter an den beiden letzen Tagen vor Krakau mit gutem Wind und wenig Regen so günstige Umstände beschert, dass wir nicht gezwungen waren, mit unserer sportlichen Bescheidenheit zu prahlen. Am Morgen (nachdem der Regen nachgelassen hatte) sind wir nach Neisse weitergefahren und haben einen der bemerkenswertesten Orte der Tour kennengelernt. Gotik und Renaissance haben hier gleichermaßen sehenswerte Gebäude hinterlassen. Das alte Jesuitenkolleg ist ganz im Stil des Ordens, die Kirche nach dem Vorbild von Il Gesú in Rom gebaut. Der rynek des Ortes ist rechteckig und von schönen Bürgerhäusern umgeben, wie erwartet. etc.

Weiter geht die Fahrt hart an der tschechischen Grenze entlang. Wunderbare Straßen, leicht geschwungen über eine hügelige Landschaft. Jede Straße ist eine herrliche Allee aus Eichen, Buchen oder Birken. Noch sind die Orte relativ geschlossen, zwischen den Ortschaften Felder und immer wieder kleinere oder größere Baumbestände. Erst östlich von Krakau beginnen sich die Ortschaften aufzulösen oder wird das Land fast übergangslos locker besiedelt.

Noch am Nachmittag holt uns wieder eine Regenfront ein. Das heftigste Gewitter können wir an einer überdachten Bushaltestelle in einem kleinen Dorf abwarten, zahllose, kurz zuvor vom Feld weg gekaufte Kirschen essend, damit die Fläche um die Haltestelle zum künftigen Kirschenhain prädestinierend, mit der örtlichen Bevölkerung über das Wetter, die Strecke, unsere Herkunft und unser Ziel parlierend, den örtlichen Geistlichen kennenlernend, wartend und abwartend bis der Regen nachlässt.

Kurz vor Racibórz (Ratibor) läßt er tatsächlich so weit nach, dass wir uns zuversichtlich auf die Suche nach dem Zeltplatz machen. Der Radreiseführer von Ansgar lobt ihn als "besonders gut ausgeschildert", was nur als Behinderung der bewährten Kommunikation mit den Einheimischen betrachtet werden kann: stammelnde Ausspracheversuche der polnischen Ortsnamen versus wortreiche Gesten in diese oder jene Richtung deutend. Ohne diese Verständigungsformen, wie gesagt, findet sich der Zeltplatz Ratibor. Nur leider ist er dieses Jahr geschlossen (Umbau? Abbau?). Offensichtlich hat der Besitzer aber einigen Jugendlichen den Schlüssel zum Platz hinterlassen, damit diese ein wenig darauf aufpassen und das Minigolf des Platzes benutzen können. Zum Glück erweicht unsere offensichtliche Bedürftigkeit die Herzen der polnischen Jugend, so dass sie uns - Platz geschlossen oder nicht - hineinlassen, wenn wir nur früh genug am nächsten Morgen verschwänden, was wir ohnehin vorhatten.

6. Tag Sonntag 28.06.98 Racibórz - Kraków (Krakau) Km: 159,2 / 555,2
Racibórz - Rybnik - ¨ory - Pszczyna (Pless) - OwiÍcin (Auschwitz) - Dwory - Monowice - MÍtków - Babice - Brod>a - Kaszów - Kraków

Sonntag vormittag, früh genug losgefahren, wagen wir uns auf die große Straße (49), um das oberschlesische Industriegebiet im Süden zu umgehen. Dies hat sich auch hinreichend bewährt. Besondere Sehenswürdigkeiten unterwegs haben wir keine entdeckt und waren gegen halb zwölf am Begegnungszentrum neben dem Karmelitterinnenkloster in Ausschwitz. Von einem früheren Besuch wusste ich, dass dort für verschwitze Radfahrer Hilfe möglich wäre. Der das Haus leitende Priester hat uns auch gleich in großer Gastfreundlichkeit ein Garagentor geöffnet, hinter dem Duschen und Waschanlagen für eventuelle Camper untergebracht waren. Dort haben wir uns schnell erfrischt und sind nach Birkenau gefahren, wo wir in einer örtlichen Pfarrkirche neben dem Lager mit der Gemeinde den Sonntagsgottesdienst gefeiert haben. Anschließend sind wir erst zum Begegnungszentrum zurückgekehrt und haben uns, mit köstlichem Kuchen aus Mamas Küche bewirtet, mit dem Leiter des Hauses unterhalten, der viel Zeit für uns hatte, nachdem ihm vierzig italienische Jugendliche kurzfristig abgesagt hatten.

Danach haben wir uns noch gut zwei Stunden Zeit genommen, das Lager Ausschwitz I und die Ausstellungen dort zu besichtigen. Informative und emotional bewegende Dokumentationen über die Deportationen und das Leben und Sterben im Lager zuerst, dann teilweise ärgerliche Ausstellungen der einzelnen Nationen, deren Angehörigen in Ausschwitz ermordet wurden. Österreich zum Beispiel stellt an den Anfang der eigenen Ausstellung das Zitat vom "ersten Opfer des Nationalsozialismus" und zelebriert sich entsprechend im ganzen Duktus der Dokumentation. Beeindruckender als diese Ausstellungen und das Lager Ausschwitz I (das die SS als "Vorzeigelager" auch dem Roten Kreuz zugänglich gemacht hatte) ist vielleicht das erklärungslos gelassene, riesige Lager Ausschwitz II/Birkenau. Baracke an Baracke auf unübersehbarer Fläche. Effiziente Abwickelung eines grausamen Geschäftes.

Von dem die Situation sehr belastenden Streit zwischen einigen Katholiken und Juden um die "Identität" des Lagers haben wir wenig gesehen. Für die Polen ist das Lager Ausschwitz I der Ort, wo viele Polen aus politischen und religiösen Gründen gefangengehalten und umgebracht wurden. Die Todeszelle von Maximilan Kolbe im Keller eines der Bunker ist eine der intensivsten Orte, an denen das erfahren werden kann. Für die Juden ist das Lager der Ort, an dem der größte Genozid ihres Volkes vollstreckt wurde. Der Bau das Karmelittinnenklosters auf dem Lagergelände wurde mit dieser Begründung von (vor allem US-amerikanischen) Juden verhindert. Um so größer und protziger haben die Katholiken das Kloster direkt neben das Lager gebaut. Nur die Nonnen hat niemand gefragt, ob sie ein solch riesiges Kloster wollen und brauchen. An der Stelle, wo das Kloster im Lager zuerst gebaut werden sollte, sitzen heute noch Katholiken unter einem Kreuz und protestieren. Traurig genug.

Der oben erwähnte Leiter des Begegnungszentrums stammt aus Krakau und fährt regelmäßig mit dem Fahrrad in die Stadt. So konnte er uns den (nicht auf Anhieb nachzuvollziehenden) Tip geben, über eine kleine Straße am Fluß und Kanal entlang nach Osten zu fahren und dann auf einer ganz kleinen, nur mit der Strömung betriebenen Fähre überzusetzen. So kamen wir von Westen her auf einer landschaftlich sehr reizvollen und wenig befahrenen Straße nach Krakau hinein. Ein rechtzeitig erworbener Stadtplan ermöglichte zudem auch das schnelle Finden des Wohnheimes, wo die Mitbrüder für uns ein Zimmer organisiert hatten.

7. Tag Montag 29.06.98 Kraków

Über den Tag in Krakau sei nur summarisch berichtet. Am Vormittag fand die sehr schöne und lebendig gestaltete Priesterweihe des jüngeren Bruders eines in Frankfurt studierenden Jesuiten (zusammen mit sechs anderen) statt. Für uns eine erfreuliche Gelegenheit, viele polnische (und einige andere) Jesuiten auf einmal zu erleben. Am Nachmittag bekamen wir von einem Mitbruder, der in München und Frankfurt studiert hatte und jetzt Philosophie an unserer Krakauer Fakultät doziert, eine Führung durch die Krakauer Innenstadt, Veith Stoss, Wawel, Jüdisches Viertel und zahllose Kirchen inklusive.

Von Krakau aus lag das nächste Etappenziel in einem kleinen Dorf, etwa siebzig Kilometer vor der ukrainischen Grenze Richtung Lemberg. Dort sollte am darauffolgenden Sonntag die erste Heilige Messe des erwähnten frisch geweihten Jesuiten gefeiert werden. Fünf Tage Zeit bis dorthin.

8. Tag Dienstag 30.06.98 Kraków - Wieliczka Km: 21,8 / 577,0

In der Nacht hatte es mal wieder geregnet. Nichts drängte uns zu frühem Aufbruch. Dank ausgiebigem Stadtplanstudium war es uns gelungen, einen ganz versteckten und grünen Weg aus Krakau heraus zu finden. Dadurch kamen wir zwar nicht gerade zügig voran, aber durch Wieliczka, nahe Krakau gelegen und, so die Überzeugung der dortigen, jedem halbwegs gebildeten Mitteleuropäer bekannt. Denn Wieliczka birgt die größte europäische Salzmine, die seit bald tausend Jahren den Herrschern reiches Einkommen garantierte. Wenn man schon andernorts Bergewerke und Salzminen besichtigt hat, meint man nicht viel neues erwarten zu müssen. Wieliczka ist dennoch einmalig. Denn mitten im Berg, 130 Meter unter der Oberfläche, haben die frommen Bergleute aus einer riesigen Abbau-Höhle eine große Kirche gemacht, ornamentierter Fußboden, Figuren und Altäre, selbst die Kristalleuchter, alles ist aus Salz gefertigt. Die zwei Stunden in der frischen Kühle des Berges sind jedem, der nach Krakau kommt, als lohnender Ausflug zu empfehlen, auch wenn man nicht, wie wir, das Glück hat, von dem fließend deutsch sprechenden ehemaligen Oberingenieur des Bergwerkes geführt zu werden.

Ebenfalls empfehlenswert der Zeltplatz in Wieliczka. Der zum Abendbrot vor dem Zelt einsetzende Regen sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

9. Tag Mittwoch 01.07.98 Wieliczka - CiÍøkowice Km: 91,5 / 668,5
Wieliczka - Biskupice - Tr±bki - Lipas - Sobolów - Nowy Winicz - Lipnica - Murowana - Tymowa - Jurków - Zakliczyn - Gromnik - CiÍøkowice

Am nächsten Tag ging es weiter nach Osten. Die Landschaft, weiterhin sehr schön, leidet sehr darunter, dass offensichtlich jeder bauen kann, wo er will, und daher die Ortschaften nur mühsam gegeneinander abgegrenzt werden können und die Gegend -- wie weiten Teilen Frankreich und Italien -- völlig zersiedelt ist. Auffällig sind dabei die vielen, verhältnismäßig reichen, neu gebauten aber noch nicht vollendeten Häuser entlang der Straße. Vermutlich die meisten von ihnen wurden mit dem Geld polnischer Auswanderer in die USA und nach Deutschland finanziert. Diese haben direkt nach der Wende investiert und hoffen wohl auf eine schnelle Wertsteigerung. Vermutlich wird die Rechnung zumindest dort nicht aufgehen, wo all diese prachtvollen Häuser nahe der Straße gebaut sind. Spätestens die Zwänge im Zusammenhang mit der EU-Bewerbung Polens werden die Verkehrsdichte in die Höhe und die Wohnqualität in die Tiefe treiben. Pech gehabt, vermutlich.

10. Tag Donnerstag 02.07.98
CiÍøkowice - Stara Wie
Km: 108,7 / 777,2
CiÍøkowice - Zborowice - £uøna - Zagórzany - Biecz - Jas>o - Krosno - Korczyna - Kombornia - Jasienica - Blizne - Stara Wie

Trocken und gemütlich haben wir die Nacht in einer kleinen, eigentlich für Gruppen ausgelegten Jugendherberge zugebracht. Da bei unserer Ankunft zufällig der Schlüsselgewaltige in der Nähe war, hat er uns ganz unkompliziert eingelassen und eingewiesen. Die Ess- und Dusch-Küche des Hauses und den Schlafsaal hatten wir so ganz für uns und konnten in Ruhe ostpolnische Spezialitäten zubereiten und zu ebensolchen piwo verzehren.

Der weitere Weg führte uns erst über eine sehr schöne Höhe, dann aber für längere Zeit in ein Tal bis zur Stadt Krosno, die historische Berühmtheit sich dadurch zuschreiben kann, dass dortselbst die Petroleum-Lampe erfunden und das erste Erdöl gefördert worden sei. Bedeutsam wohl, aber keine Touristenattraktion. Ohnehin war das Wetter nicht sehr genießlerisch.

Für die folgenden zwei Tage hatten wir uns in einem besonderen Jesuiten-Haus angesagt. Das alte Pauliner-Kloster Stara Wie war von diesen bei der Säkularisation 1806 verlassen worden. Keine dreißig Jahre später haben die Jesuiten das Kloster übernommen und dort das erste polnische Noviziat nach der Wiederbegründung des Ordens eröffnet. Der Bau ist entsprechend Kloster- und nicht Jesuitenarchitektur.

11. Tag Freitag Stara Wie

Den folgenden, nicht völlig verregneten Tag, haben wir damit zugebracht, das Reisetagebuch fortzuschreiben, Postkarten für die Daheimgebliebenen zum Nachweis unserer Fernreise und unserer Verbundenheit in Gedanken zu verfassen und einen Besuch im nahen Städtchen zu machen (der rynek zwar rechteckig und mit guter Eisdiele, das Heimatmuseum aber geschlossen und die Kirche wenig bemerkenswert).

12. Tag Samstag 03.07.98 Stara Wie - Ranizów Km: 82,2 / 859,4
Stara Wie - Blizne - Domaradz - Lutcza - Babica - Rzeszów - G>ogów M>p. - Przewrotne - Ranizów

Am Samstag in der früh sind wir nach der Messe aufgebrochen und hatten einen guten Weg bis in die Stadt Rzeszów, mit 190.000 Einwohnern und der Lage auf der Straße nach Lemberg nicht unbedeutend, aber sonst hauptsächlich mit sozialistischen Plattenbauten gesegnet. Umso bemerkenswerter, mit wieviel Fleiß die kleine Innenstadt und die ansehnlicheren Straßen gut hergerichtet, für den Autoverkehr gesperrt und damit dem öffentlichen Leben zugänglich gemacht werden. Da die Stadt zudem eine Universität hat, könnte sie mit Fleiß und Phantasie durchaus eine gute Zukunft haben.

Hier setzte wieder der Regen ein, der uns bis zu dem 26km entfernten Dörfchen begleitete, wo Familie Kochanowicz zuhause ist, deren zwei Söhne Jurek und Pjotr in der Gesellschaft Jesu sind. Für die Strecke dahin sei die Beobachtung festgehalten, dass jetzt auf einmal die Besiedelung wieder geschlossen erscheint und die Felder damit wieder größer werden können. Die (historische?) Ursache dafür konnte mir keiner der Einheimischen erklären. Auf jeden Fall geht es nicht auf unterschiedliche Zugehörigkeit zu Zeiten der polnischen Teilung zurück, da erst weiter nördlich der habsburger Teil aufhört und der russische beginnt.

Im kleinen Dörfchen Ranizów wurden wir von Jurek begrüßt. Er machte uns auch das Internet zugänglich, so dass wir uns im Blick auf die Wetterkarte damit trösten konnten, das Schicksal von Zweidrittel aller Europäer zu teilen: Regen, Schauer, Niederschläge etc. bei abnehmenden Temapaturen. Die Alternative war nur: Spanien und, deutlich auf dem Satelittenbild zu erkennen, der äußerste Südwesten Deutschlands.

Dies waren die äußeren Daten, die in unserem Inneren den Entschluss reifen ließen, das Rad im Zug zu transportieren und weit, weit nach Westen zu fahren.

13. Tag Sonntag, 04.07.98 Ranizów
14. Tag Sonntag/Montag, 04./05.07.98
Rzeszów - Kraków - Berlin/Lichtenberg - Frankfurt/Main

Noch am späteren Nachmittag aber mußten wir auf den Zug. Um die Räder grenzüberschreitend transportieren zu können, mußten wir sie erst heftig zerlegen, in Karton einschlagen und unauffällig pfeifend so tun, als seien es einfach nur große Gepäckstücke und nicht (in diesen Zügen nicht zugelassene) Fahrräder. Das bedeutet zwar eine gute Stunde (schmutzige) Arbeit, bringt aber normalerweise den gewünschten Erfolg.

Viel ist von der Rückfahrt nicht zu berichten. Der Nachtzug hätte leerer sein können, was den Schlaf befördert hätte. Wenn wir frühzeitig gewußt hätten, wie wir zurückfahren, hätten wir natürlich auch einen Liegewagen bestellt, da dies in Polen nicht so teuer ist. Aber auch so ging es (mit einmal Umsteigen in Krakau) ganz gut. Nur das Umsteigen in Berlin - vom Bahnhof Lichtenberg zum neuen Ostbahnhof - ist unnötig mühsam. Die letzte der drei Wochen haben wir dann im Südschwarzwald stationär verbracht. In der Tat hatten wir dort im Unterschied zum Norden zumeist schönes Wetter und konnten so unbeschwert die Erinnerung an die Tour genießen: Alles in allem zwei Wochen, gut gewässert, aber unter dem Strich doch eine schöne Tour, eine Strecke, die sich empfehlen läßt und ein Land, das mich sicher auf dem Rad wiedersehen wird.

 

 

Author: Martin Löwenstein SJ



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